The Point of no Return
Edging im Hinterhof.
„Hände weg und atme! Lass ihn beben … “
Mein Gegenüber stöhnt gequält auf. „Ich schaffe es nicht,“ ruft er fast verärgert. Dann setzt er doch gekonnt mit den Atemtechniken ein, um die Erregungsenergie durch seinen Körper zu verteilen – eine Übung, die ihn für mehrere Tage danach energetisierte und euphorisierte, wie er mir später berichtete.
„Edging“ heißt es so schön auf Englisch. Oder „ejaculation choice“ für diejenigen, die ihre gefühlt zu schnell abfallende Steilkurve gegen ein genussvoll-ausgedehntes Plateau austauschen wollen. Der sogenannte „point of no return“, also der Moment, bei dem es kein Zurück mehr gibt, setzt bei vielen viel früher ein als gewünscht. Zum Glück lässt sich das durch Übung beeinflussen. „Regulieren „heißt es auf Deutsch, ein Begriff, der mich aber eher an Behördengänge oder Schuldisziplin erinnert. Der momentane Zustand meines Klienten hat aber wenig mit Behördengängen gemeinsam. Sein Lingam scheint ein Eigenleben entwickelt zu haben und vibriert und tanzt freudig vor sich hin.
Der Praxis „Edging“ bin ich das erste Mal vor vielen Jahren in Berlin begegnet. Ich war jung und ich war neugierig auf alles Verruchte, das in den großen, alten Hinterhofwohnungen und Lagerräumen stattfand. Damals war Berlin noch von der Mauer eingekesselt. Die Wohnungen wurden mit Kohleofen beheizt und die Toilette war auf halber Treppe (und damit gebe ich stolz mein Alter preis).
Ich war zu einer Party eingeladen, die vielversprechend klang. „Befreie dich mit der Lust!“ stand als Motto auf der Einladung. Die Adresse bekam ich erst nach vorheriger Anmeldung und ich brauchte eine Person, die eine Empfehlung für mich aussprach, sprich, die eine Art „Bürgschaft“ für mich übernahm.
Meine „Bürgerin“ verließ mich gleich an der Tür und verschwand in der Menge – splitternackt bis auf eine lange Perlenkette. Ich suchte eine Ecke des Raumes, von wo aus ich das Geschehen beobachten konnte, und setzte mich etwas schüchtern auf ein Sofa. Zu meinen Füßen lagen zwei Menschen auf einer Matratze, die sich lustvoll hin und her bewegten. Sie berührten einander nicht sondern waren ganz mit sich selbst und dem jeweils eigenem Körper beschäftigt, aber sie lachten oft und schienen sich gegenseitig zu ermutigen. Mich lachten sie auch an und ich traute mich irgendwann zu fragen:
„Was macht ihr da eigentlich?“
„Edging!“ riefen sie gemeinsam im Chor und die Frau klärte mich auf, während sie weiter mit einem Vibrator über ihrer Klitoris kreiste.
„Ich bin Eva,“ stellte sie sich vor.“ Wir sind kein Paar, sondern beste Freunde. Wir lieben diese Partys aber da wir beide gerade in monogamen Beziehungen sind, können wir uns nicht wie früher ins Geschehen stürzen,“ sagte sie und zeigte lächelnd auf eine kleine Gruppe, die sich gerade nackt ein lustvolles Spanking-Duell lieferte.
„Wir besuchen trotzdem die Partys, treffen Freunde, schauen zu und machen dabei „Edging,“ führte sie fort. „Komm noch dazu, wenn du magst.“
„Hmmm, vielleicht schaue ich später vorbei,“ murmelte ich etwas verlegen. Ihr bester Freund ölte gerade erneut sein bestes Stück ein und es gab nicht besonders viel Platz auf der Matratze.
Stunden später, als ein Cello-Spieler aus Trier mich aus meiner Schüchternheit herausgelockt hatte und ich zwischen anderen Abenteuern in einem schummrigen Raum in Unterwäsche Tango getanzt hatte, erinnerte ich mich wieder an die beiden. Ob sie noch da waren? Ich stieg über die nackten Körper, die sich im ganzen Raum auf dem Boden verteilt hatten und sich nach dem Austoben kuschelnd ausruhten, und suchte die Ecke wieder auf. Da waren sie! Unglaublich. An der gleichen Stelle und immer noch beim „Edging“. Er winkte mir zu, während er langsam und hochkonzentriert atmete und sich sanft und rhythmisch mit der Spitze seines Lingams beschäftigte, der in meiner Abwesenheit anscheinend nichts an Standhaftigkeit verloren hatte. Neben ihm wälzte sich Eva wild umher und stöhnte dabei laut und hemmungslos. Sie hatte sich mithilfe ihrer Hände und dem Vibrator in einen ekstatischen Trance-Zustand gebracht und bebte und zuckte am ganzen Körper.
„Wieder ein Ganzkörperorgasmus. Das kann sie hervorragend,“ grinste er. „Ich muss noch ein bisschen daran arbeiten,“ seufzte er dann und konzentrierte sich erneut auf sein Fingerspitzengefühl.
Ich war beeindruckt und wollte sofort mehr darüber erfahren und lernen. Ich habe diese Szene nie vergessen und ich rufe sie manchmal vor meinem inneren Auge auf, um mich selbst zu motivieren, meine eigenen Fähigkeiten weiter zu schulen. Oder ich erzähle von den beiden, um meine Klient:innen dazu zu ermutigen, ihre Hausaufgaben zu machen. Denn langanhaltende ekstatische Ganzkörperzustände brauchen Übung und Disziplin, das weiß ich inzwischen aus Erfahrung. Dieser Moment hat mich auch dazu inspiriert, meine Übungen in erotischen Settings zu machen, zu zweit oder gemeinsam mit Freunden. Manchmal demonstriere ich in meinen Sitzungen Evas bebenden Zustand, um zu zeigen, wohin die Reise gehen kann.
Mein Coaching-Klient ist schon gut auf dem Weg dorthin. Er hat sich auf einer Skala von 1-10 schon auf 8 hoch massiert und fängt gerade an, Arme und Beine zu schütteln, um die Erregung noch mehr ausbreiten zu lassen. „Jellyfish“ heißt die Übung. Da aber viele Menschen Quallen nicht mit Ekstase in Verbindung bringen und lautes Stöhnen mit offenem Mund nicht ganz in ein Unterwasser-Szenario passt, greife ich manchmal auf das Bild von Eva zurück. Ich hatte mit meinem Klienten bereits im Vorgespräch über ihren Ganzkörperorgasmus gesprochen. Seinen vibrierenden Plug hat er zwar woanders platziert als sie ihren Vibrator, aber er bewegte sich gerade deutlich auf seinen ersten Ganzkörperorgasmus zu. „Es gibt kein Ziel. Lass einfach geschehen,“ sagte ich, als ein Zittern und Vibrieren in Wellen von seinem Beckenboden Richtung Kopf ging. „Genau so, lass alles los,“ bekräftigte ich ihn, als er laut und lange ausatmete. Das Vibrieren wurde noch kräftiger und es schüttelte mehrere Minuten durch ihn durch, während er sich ganz darin fallen ließ. Es war wunderschön zu erleben.
„Sag den beiden von der Party ein großes Dankeschön von mir,“ scherzte er später als er den Nachklang noch auskostete. „Ich bin froh, dass sie dich zu dieser Arbeit inspiriert haben.“ Ich denke tatsächlich oft dankend an die beiden. Schließlich haben sie mich durch ihren anregenden Zustand ein Stück weit auf den Weg geschickt, auf dem ich heute noch bin. Vielleicht treffe ich sie irgendwann mal wieder auf einer der wilden, geheimen Partys, die es glücklicherweise immer noch in Berlin gibt. Ich werde mich aber sicherlich beim nächsten Mal gleich nach der Begrüßung dazulegen und sagen „lasst uns gemeinsam Edging machen.“